Thema des Tages
Familie am Ende
Ehen werden nur noch auf Zeit geschlossen, Kinder vom
Staat betreut: Damit verliert die Gesellschaft ihren Zusammenhalt.
Von Norbert Blüm
Ehe und Familie sind die großen Stabilisatoren der Evolution. Selbst den Katastrophen
der Natur und in den revolutionären Umbrüchen hielt der familiäre Kern des
Zusammenlebens stand. Weder Robespierre noch Hitler, Stalin, Mao oder Pol Pot
schafften es, die Familien zu eliminieren, so sehr sie sich auch darum
bemühten. Ehe und Familie haben alle Frontalangriffe überlebt. Bedrohlicher
als die gewaltsamen Versuche von gestern sind möglicherweise die lautlosen
Unterminierungen von heute. Entfunktionalisierung durch Outsourcing lässt von
Ehe und Familie nur noch eine ausgelaugte Hülle übrig. Für was aber sollen
Ehe und Familie noch gut sein?
Familie: für den Zusammenhalt? Wenn jeder sich selbst genug und
Selbstverwirklichung Alleinverwirklichung ist, bedarf es keines sozialen
Zusammenhalts.
Familie: für den Nachwuchs? Kinder lassen sich auch außerhalb einer Ehe auf
die Welt bringen. Die außereheliche Geburt lässt sich noch weiter treiben und
durchperfektionieren. Der künstliche Mensch ist machbar, wie Ray Kurzweil in
seinem Bestseller 'Homo sapiens' kühn behauptet. Er ließe sich sogar nach dem
Produktionswünschen der Wirtschaft optimieren. Jede und jeder wird dann für
den Platz gentechnisch programmiert, auf dem er später produziert, so dass
arbeitsmarktpolitische Fehlbesetzungen zukünftig ausgeschlossen sind: Jeder
kommt auf den Platz, für den er vorgesehen ist. Das ergibt eine stabile
Gesellschaft ohne Aufstiegssehnsucht und Abstiegsängste.
Familie: für die Erziehung? Die familiäre Erziehung, so hat sich in der
Debatte über das Betreuungsgeld herausgestellt, gilt als überholt. So gesehen
sind Eltern Dilettanten. Allein die professionelle Erziehung aller Kinder
durch öffentliche Erziehungsanstalten wird als Voraussetzung für
Chancengleichheit angegeben. Deshalb werden die Anstrengungen verstärkt,
Kinder möglichst schon kurz nach der Geburt den Händen der Erziehungsexperten
zu übergeben, um sie später ganztags schulisch zu 'erfassen'. Schulfreie
Kindheitszonen soll es nicht mehr geben. Die allgegenwärtige öffentliche
Betreuung beseitigt auch die letzten Verstecke, die dem Abenteuer Kindheit
zur Verfügung standen. Selbst die Ferienzeiten werden jetzt zunehmend mit
schulischem Betreuungsangebot besetzt, damit auf keinen Fall Spielräume ohne
staatlich professionelle Erziehungsaufsicht entstehen. Die Familie ist noch
für Übernachtung zuständig.
Dauerhafte Ehen sind eine Einschränkung der Wahlfreiheit. Jede Festlegung
engt sie ein. Wahlfreiheit wird als höchste Form der Freiheit ausgegeben.
Ehen werden nicht auf Lebenszeit geschlossen, sondern nur noch, 'bis etwas
Besseres' kommt. Deshalb wandelt sich die dauerhafte Ehe 'bis der Tod euch
scheidet' in eine vorübergehende Lebensabschnittspartnerschaft mit relativ
geringem Kündigungsschutz. Jedenfalls einem geringeren als im Miet- und
Arbeitsrecht. 'Zerrüttung' reicht als Auflösungsgrund. Dafür ist nur der
Nachweis einer erfolgreich absolvierten Trennungszeit erforderlich. Unser
Scheidungsrecht braucht also in Sachen Hemmungslosigkeit keinen Vergleich zu
scheuen. Leichter geht"s nicht mehr.
Die okzidentale Monogamie gleicht sich an die orientalische Polygamie an. Was
in der orientalischen Variante zeitgleich organisiert ist, wird in der
okzidentalen in einer Zeitreihe untergebracht. An die Stelle des
morgenländischen Nebeneinanders der Ehepartner tritt das neue abendländische
Nacheinander der Lebensabschnittsgefährten. Das westliche Modell ist überdies
noch geschlechtsneutral, es steht auch Frauen zur Verfügung.
Der Ratio der vorübergehenden Ehe entspricht die Opportunität, die Güter der
Partner in der Ehe getrennt zu halten. Dass Eheeinkommen vergemeinschaftete
Einkommen sind, ist bei vereinten Ich-AGs nicht vorgesehen. Wer in der Ehe
mehr für die Ehegemeinschaft als für den Erwerb gearbeitet hat, ist im Fall
der Scheidung der oder die Dumme. 'Fortschrittliche' Heiratswillige nehmen
deshalb gescheiterweise vor der Ehe das Ende vertraglich voraus und sichern
sich ihre wechselseitigen Ansprüche ab. Ohne Rechtsanwalt am Anfang und Ende
läuft für den nutznießenden Homo oeconomicus auch in der Liebe nichts. Im
Zeitalter der ungehemmten Selbstversorgung ist Arbeit für andere und gar ohne
Lohn, wie sie in jeder Familie geleistet wird, nicht mehr vorgesehen. Es
zählt nur die Arbeit für Geld und für sich. Für die Ehefrau, die aus
ehelicher Uneigennützigkeit zum Beispiel dem Mann das Studium bezahlte, mit
dessen Hilfe sich dieser später ein Spitzeneinkommen verschaffte, bleibt nach
der Trennung ein 'Vergelt"s Gott' als überirdischer Trost. Eheliche
Nachhaltigkeit kennt Nachwirkung nach der Ehe nur im bescheidenen Maße an,
gleichsam als Überbrückungshilfe 'in das eigentliche Leben', das Erwerb
heißt. Darauf zielt jedenfalls das neue gesetzliche Eherecht.
Die Ehe, in guten wie in schlechten Zeiten, verwandelt sich in die
vorübergehende Arbeitsgemeinschaft zur gemeinsamen Nutzung der Freizeit. Für
schlechte Zeiten ist die Lebensabschnittspartnerschaft nicht eingerichtet.
Auf der Verlustliste dieses 'Fortschritts' stehen die Kinder, die Eltern, die
Frauen und die Liebe. Die Kinder werden ohne Mutter und Vater groß. Eltern
erleben Kinder nur nebenbei. Im Finale dieser Entwicklung wird es gar keine
Eltern mehr geben. Kinder werden Geschöpfe des Staates.
Zu den überraschenden Ergebnissen dieser Art von Emanzipation zählen mehr im
Alter alleinstehende Frauen. Ehemänner bevorzugen im Alter jüngere
Zweitfrauen. Das ist die bittere Rache des bornierten Patriarchats. Gibt es
vielleicht eine Form des Feminismus, die ungewollt als Geheimagent der
Männerherrschaft wirkte?
Der neue, erfolgreiche Mensch wird nirgendwo und nirgendwann von der Liebe
berührt. Er lebt für sich als selbstgenügsame Monade. Emotionale Defizite
lassen sich notfalls pharmakologisch beseitigen. Wenn es Gen-Manipulatoren
gar gelingt, die Nachfrage nach dem Miteinander an der Wurzel des
Menschwerdens schon in der Erbausstattung auszurotten, dann wird der Autismus
zum amtlichen Gesellschaftsprogramm.
Ehe ist im modernen Verständnis die Addition von zwei selbständigen
Individuen, während sie im alten Sinn eine Gemeinschaft bildet, die mehr als
die Summe Teile ist (Aristoteles).
Von den Erschütterungen der Liebe, von ihrer Freud und ihrem Leid, bleibt der
'neue Mensch' verschont, aber er erfährt auch nichts von dem Glück, das sich
aus dem Erlebnis speist, dass teilen reicher und lieben paradoxerweise
zugleich abhängiger und freier macht.
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